Im Urteil vom 24. Oktober 2022 hatte das Bundesverwaltungsgericht die Frage zu beurteilen, ob eine fristlose Kündigung eines SBB-Mitarbeiters wegen sexueller Belästigung rechtmässig war. Auslöser waren drei Vorfälle zwischen dem SBB-Mitarbeiter und einer Kollegin. Das Bundesverwaltungsgericht kam vorliegend zum Schluss, dass die fristlose Kündigung gerechtfertigt war, da schon eine einzelne Belästigungshandlung reicht, wenn diese geeignet ist, die Vertrauensgrundlage zu zerstören.
Abstract: Bei sexueller Belästigung ist wesentlich, ob die Würde der belästigten Person beeinträchtigt ist. Die Absicht des Täters ist nicht entscheidend. Ein Schlag auf das Gesäss und das Festhalten am Hosenbund ist gemäss Bundesverwaltungsgericht als sexuelle Belästigung zu qualifizieren. Die zwei Verfehlungen sind objektiv geeignet, die Vertrauensgrundlage tiefgreifend zu erschüttern und rechtfertigen eine fristlose Kündigung ohne vorgängige Verwarnung.
Der Entscheid
Dem Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts (A2913/2021) vom 24. Oktober 2022 lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Ein SBB-Mitarbeiter hatte gemäss den wiederholten Aussagen einer Kollegin diese in drei Fällen sexuell belästigt. Erstens habe er ihr im Pausenraum des Bahnhofs die Maske runtergezogen und versucht sie auf den Mund zu küssen, zweitens habe er ihr auf das Gesäss geschlagen und drittens habe er sie im Bahnhof abgefangen und an der Gürtelschnalle festgehalten, als sie von ihm habe weglaufen wollen. Ein weiterer SBB-Mitarbeiter bestätigte in einer Befragung den Schlag auf das Gesäss sowie das Festhalten am Hosenbund.
Der angeschuldigte SBB-Mitarbeiter bestritt anlässlich der Sachverhaltsabklärung die Vorwürfe. Nachdem ihm das rechtliche Gehör gewährt worden war, löste die SBB das Arbeitsverhältnis fristlos auf.
Der SBB-Mitarbeiter erhob Beschwerde gegen die Kündigungsverfügung und beantragte, dass die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Vorinstanz zu verpflichten sei, das Anstellungsverhältnis mit ihm unbefristet weiterzuführen. In der Replik beantragte er eventualiter, dass ihm der Lohn und alle übrigen geldwerten Ansprüche aus dem Arbeitsvertrag bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zuzusprechen seien.
Das Bundesverwaltungsgericht hielt fest, dass eine fristlose Kündigung ohne vorgängige Verwarnung nur bei einem besonders schweren Fehlverhalten der angestellten Person gerechtfertigt sei. Dieses müsse einerseits objektiv geeignet sein, die für das Arbeitsverhältnis wesentliche Vertrauensgrundlage zu zerstören oder zumindest so tiefgreifend zu erschüttern, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zuzumuten ist. Anderseits müsse sich das Verhalten auch tatsächlich derart auf das Vertrauensverhältnis auswirken. Ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung könne insbesondere in einer schweren Verletzung der Treuepflicht liegen, also der Pflicht der Angestellten, die berechtigten Interessen des Arbeitgebers wie auch des Bundes zu wahren (sogenannte “doppelte Loyalität” im öffentlichen Personalrecht). Inakzeptables Verhalten gegenüber Arbeitskollegen könne ebenfalls einen wichtigen Grund bilden. Das Bundesverwaltungsgericht erwähnte an dieser Stelle explizit die sexuelle Belästigung.
Die Absicht des Belästigers ist irrelevant.
Gemäss Bundesverwaltungsgericht (unter Verweis auf das Gleichstellungsgesetz) fallen unter den Begriff der sexuellen Belästigung insbesondere Drohungen, das Versprechen von Vorteilen, das Auferlegen von Zwang und das Ausüben von Druck zum Erlangen eines Entgegenkommens sexueller Art, ferner unerwünschte sexuelle Annäherungen und Handlungen, die das Anstandsgefühl verletzen, sexistische Sprüche, anzügliche und peinliche Bemerkungen, das Aufhängen anstössiger Fotografien sowie das Versenden solcher E‑Mails und von unerwünschten SMS. Wesentlich ist dabei, ob die Würde der belästigten Person beeinträchtigt ist, die Absicht des Täters ist dabei nicht entscheidend.
Das Bundesverwaltungsgericht kommt zum Schluss, dass die beiden von der Drittperson bestätigten Vorfälle (Schlag auf das Gesäss und Festhalten am Hosenbund) als sexuelle Belästigung zu qualifizieren sind. Weiter seien die zwei Verfehlungen objektiv geeignet, die Vertrauensgrundlage tiefgreifend zu erschüttern. Das Vorliegen eines wichtigen Grundes, der zur fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses berechtige, sei deshalb zu bestätigen und die fristlose Kündigung ohne vorgängige Verwarnung nicht zu beanstanden.
Das Bundesverwaltungsgericht prüfte noch, ob eine mildere Massnahme möglich gewesen wäre. Es kam zum Schluss, dass sich eine Weisung, Ermahnung, Versetzung oder Kündigungsandrohung nicht als geeignetes Mittel erwiesen hätte, um den massiven Vertrauensverlust der Vorinstanz zu verhindern respektive zu reparieren. Durch eine Weiterbeschäftigung des Mitarbeiters in dieser Situation würde die Glaubwürdigkeit unweigerlich Schaden nehmen, weshalb die genannten Massnahmen untauglich wären. Der SBB konnte vor diesem Hintergrund eine Weiterführung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden.
Gedanken zum Entscheid
Der Entscheid ist in seiner Klarheit zu begrüssen. Die fraglichen Handlungen sind eindeutig als sexuelle Belästigung zu qualifizieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen der sexuellen Belästigung konnten mindestens zwei von drei Vorfällen von einer Drittperson beobachtet werden, womit der von der Melderin vorgebrachte Sachverhalt bestätigt werden konnte. Bei einer solchen Ausgangslage ist die fristlose Auflösung des Arbeitsverhältnisses die logische und juristisch korrekte Konsequenz. In der Realität handelt es sich bei der sexuellen Belästigung aber häufig um ein sogenanntes Vier-Augen-Delikt, bei dem sich die Aussagen der involvierten Personen diametral unterscheiden. In diesen Fällen gestaltet sich die notwendige Sachverhaltsabklärung deutlich komplizierter und die Grundlage für allfällige Massnahmen ist viel schlechter. Entsprechend sind die Vor- und Nachteile sorgfältig abzuwägen und von überstürzten Handlungen ist abzuraten.
Bei der Beurteilung, ob es sich um sexuelle Belästigung handelt oder nicht, ist auf zwei Aspekte nochmals deutlich hinzuweisen: Einerseits ist es wesentlich, ob die Würde der belästigten Person beeinträchtigt ist und anderseits ist die Wahrnehmung der belästigten Person relevant und nicht die Absicht der belästigenden Person. Dies führt dazu, dass der subjektiven Wahrnehmung der belästigten Person ein hohes Gewicht zukommt. Diese Voraussetzung kann zu einem gewissen Spannungsverhältnis führen, denn der Grund für die Kündigung stellt das zerstörte Vertrauen der Arbeitgeberin dar. Es ist grundsätzlich denkbar, dass eine Mitarbeiterin sich nicht sexuell belästigt fühlt, die Arbeitgeberin das Verhalten dennoch als unhaltbar einstuft.
Hinweis für die Praxis
Gemäss Gleichstellungsgesetz kann einer betroffenen Person eine Entschädigung zugesprochen werden, wenn die Arbeitgeberin nicht beweist, dass sie Massnahmen getroffen hat, die zur Verhinderung sexueller Belästigung nach der Erfahrung notwendig und angemessen sind und die ihr zugemutet werden können. Die Prävention liegt somit in der Verantwortung der Arbeitgeberin. Die drei wichtigsten Aspekte der Prävention sind:
- Information der Mitarbeitenden, was unter sexueller Belästigung zu verstehen ist
- Grundsatzerklärung, dass sexuelle Belästigung im Unternehmen nicht geduldet wird
- Ansprechpersonen, an die sich betroffene Mitarbeitende wenden können
Der Bund empfiehlt die Information aller Mitarbeitenden mit einem Merkblatt, welches mindestens die folgenden Punkte enthalten sollte:
- Erklärung der Unternehmensleitung, dass sie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht duldet
- Definition von sexueller Belästigung
- Unterstützungsangebot für Mitarbeitende, die sich belästigt fühlen
- Hinweise auf Sanktionen, die gegen die belästigende Person ergriffen werden.
Zusätzlich wird die Erstellung eines Reglements empfohlen, worin die Haltung des Unternehmens, die Präventionsmassnahmen und das Vorgehen bei Fällen von sexueller Belästigung festgehalten werden.