Wenn sich Arzt und Vertrauensarzt nicht einig sind

An die Ar­beits­un­fä­hig­keit schlies­sen ver­schie­de­ne Rechts­fol­gen an. So ist der Lohn trotz feh­len­der Ar­beits­leis­tung ge­schul­det, ei­ne or­dent­li­che Kün­di­gung wäh­rend ei­ner be­stimm­ten Zeit­span­ne ist nach Ab­lauf der Pro­be­zeit nicht mög­lich und im ge­kün­dig­ten Ver­hält­nis ver­län­gert sich un­ter Um­stän­den die Kün­di­gungs­frist. Was aber, wenn der Ar­beit­ge­ber an der Ar­beits­un­fä­hig­keit zwei­felt, bei­spiels­wei­se, weil die­ser just im Zeit­punkt der Kün­di­gung krank wird? In wel­chen Fäl­len kann der Ar­beit­ge­ber den Ar­beit­neh­mer zu ei­nem Ver­trau­ens­arzt schi­cken und was be­deu­tet es, wenn der den Ar­beit­neh­mer be­han­deln­de Arzt und der Ver­trau­ens­arzt zu un­ter­schied­li­chen Er­geb­nis­sen kommen? 

Abs­tract: Bei Zwei­feln an der Rich­tig­keit ei­nes Arzt­zeug­nis­ses kann der Ar­beit­ge­ber den Ar­beit­neh­mer an­wei­sen, sich ei­ner ver­trau­ens­ärzt­li­chen Un­ter­su­chung zu un­ter­zie­hen. Da die­se Wei­sung ei­nen Ein­griff in die Per­sön­lich­keit des Ar­beit­neh­mers dar­stellt, müs­sen ob­jek­ti­ve An­halt­punk­te, wel­che die Zwei­fel be­grün­den, vor­lie­gen. So­fern der Ar­beit­neh­mer die ver­trau­ens­ärzt­li­che Un­ter­su­chung trotz Ab­mah­nung ver­wei­gert, kann die Lohn­fort­zah­lung ein­ge­stellt wer­den. Der me­di­zi­ni­schen Ein­schät­zung der Ver­trau­ens­ärz­tin kommt grund­sätz­lich der­sel­be Be­weis­wert zu, wie der­je­ni­gen der be­han­deln­den. Bei un­ter­schied­li­chen Be­fun­den muss der Ar­beit­ge­ber ent­schei­den, wel­chem Zeug­nis er den Vor­zug ge­ben will. So­fern er zum Schluss kommt, dass der Ar­beit­neh­mer ar­beits­fä­hig ist, soll­te er mit die­sem das Ge­spräch su­chen. Kann kei­ne Ei­ni­gung er­zielt wer­den, ist der Ar­beit­neh­mer zur Ar­beits­auf­nah­me auf­zu­for­dern. Kommt der Ar­beit­neh­mer die­ser ar­beit­ge­ber­sei­ti­gen Wei­sung nicht nach, kann die Lohn­fort­zah­lung ein­ge­stellt werden. 

Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch die Arbeitnehmerin 

Ge­mäss Art. 324a OR hat die Ar­beit­ge­be­rin für ei­nen be­schränk­te Zeit den Lohn zu ent­rich­ten, so­fern ei­ne Ar­beit­neh­me­rin, aus Grün­den, die in ih­rer Per­son lie­gen, wie Krank­heit, Un­fall, usw. an der Ar­beit ver­hin­dert ist und das Ar­beits­ver­hält­nis län­ger als drei Mo­na­te ge­dau­ert hat oder für mehr als drei Mo­na­te ein­ge­gan­gen wor­den ist. Die Lohn­fort­zah­lung stellt ei­ne wich­ti­ge Kon­kre­ti­sie­rung der Für­sor­ge­pflicht der Ar­beit­ge­be­rin dar. Der Nach­weis für die Ar­beits­un­fä­hig­keit ob­liegt der Ar­beit­neh­me­rin und kann grund­sätz­lich in ir­gend­ei­ner Wei­se er­bracht wer­den. In der Pra­xis ge­schieht dies in der Re­gel aber durch ein ärzt­li­ches Zeug­nis. Oft­mals ist in Ar­beits­ver­trä­gen fest­ge­hal­ten, dass nach ei­ner krank­heits­be­ding­ten Ab­we­sen­heit von drei oder vier Ta­gen ein ärzt­li­ches Zeug­nis bei­zu­brin­gen ist. Nicht un­um­strit­ten ist, ob die Ar­beit­ge­be­rin ein ärzt­li­ches Zeug­nis be­reits ab dem ers­ten Tag ver­lan­gen kann, auch wenn dies im Ar­beits­ver­trag an­ders vor­ge­se­hen ist. Da­mit es nicht zu Un­klar­hei­ten kommt, ist es emp­feh­lens­wert, im Ar­beits­ver­trag fest­zu­hal­ten, dass ein Arzt­zeug­nis auf Ver­lan­gen bei­zu­brin­gen ist, oh­ne die­se Vor­ga­be an ei­ne Frist zu knüp­fen, oder ei­ne «In-der-Re­gel-For­mu­lie­rung» zu wählen. 

Ei­nem ärzt­li­chen Zeug­nis kommt kein ab­so­lu­ter Be­weis­wert zu. In der Pra­xis stel­len die Ge­rich­te aber auf ein Arzt­zeug­nis ab, so­fern nicht be­grün­de­te Zwei­fel an des­sen Rich­tig­keit be­stehen. Der Grund hier­für liegt nicht zu­letzt dar­in, dass das Zeug­nis von ei­ner Fach­per­son aus­ge­stellt wird. Aus dem Blick­win­kel der Für­sor­ge­pflicht des Ar­beit­ge­bers und des Schut­zes der Ar­beit­neh­me­rin als schwä­che­rer Par­tei er­scheint dies sach­ge­mäss. Was aber wenn die Ar­beit­ge­be­rin an der Rich­tig­keit des ärzt­li­chen Zeug­nis­ses und da­mit an der Ar­beits­un­fä­hig­keit der Ar­beit­neh­me­rin zweifelt? 

«Gegenbeweis» des Arbeitgebers

So­fern der Ar­beit­ge­ber Zwei­fel an ei­nem Arzt­zeug­nis hegt, stellt sich die Fra­ge, wie er des­sen Rich­tig­keit über­prü­fen las­sen kann. Hier kommt die Ver­trau­ens­ärz­tin ins Spiel. Sie soll er­mög­li­chen, dass ein Ar­beit­ge­ber die Ar­beits­un­fä­hig­keit, wel­che durch ei­ne Fach­per­son at­tes­tiert wor­den ist, durch ei­ne an­de­re Fach­per­son über­prü­fen las­sen kann. Die Wei­sung, sich ei­ner ver­trau­ens­ärzt­li­chen Un­ter­su­chung zu un­ter­zie­hen, stellt aber ei­nen Ein­griff in die Per­sön­lich­keit des Ar­beit­neh­mers dar. Sol­che Wei­sun­gen des Ar­beit­ge­bers sind nur so­weit zu­läs­sig, als das Ar­beits­ver­hält­nis sie er­for­dern. Die­sem Er­for­der­nis wird da­durch Rech­nung ge­tra­gen, dass die Zwei­fel an der Rich­tig­keit des Arzt­zeug­nis­ses durch ob­jek­ti­ve An­halts­punk­te be­grün­det sein müssen. 

Es müs­sen ob­jek­ti­ve An­halts­punk­te für die Zwei­fel an der Ar­beits­un­fä­hig­keit vorliegen.

Sol­che ob­jek­ti­ven An­halts­punk­te kön­nen sich aus dem Ver­hal­ten der Ar­beit­neh­me­rin er­ge­ben, bei­spiels­wei­se wenn die Ar­beit­neh­me­rin pri­vat Ar­bei­ten ver­rich­tet, wel­che der durch das Ar­beits­zeug­nis at­tes­tier­ten Ar­beits­un­fä­hig­keit voll­kom­men ent­ge­gen­ste­hen. Eben­falls be­rech­tig­te Zwei­fel kön­nen auf­kom­men, wenn der Be­ginn der Ar­beits­un­fä­hig­keit oh­ne nach­voll­zieh­ba­re Grün­de Ta­ge vor der Erst­kon­sul­ta­ti­on liegt. Als wei­te­re ob­jek­ti­ve An­halts­punk­te wer­den Ar­beits­ver­hin­de­run­gen an­ge­se­hen, wel­che an­ge­kün­digt wur­den oder un­mit­tel­bar vor oder nach ei­ner Kün­di­gung oder gar un­mit­tel­bar vor nicht be­wil­lig­ten Fe­ri­en gel­tend ge­macht wer­den. Wenn sol­che An­halts­punk­te vor­lie­gen, kann die Ar­beit­ge­be­rin von der Ar­beit­neh­me­rin ver­lan­gen, dass sie sich von ei­nem Ver­trau­ens­arzt un­ter­su­chen lässt. Dies ist Aus­fluss der Treu­pflicht der Ar­beit­neh­me­rin, wes­halb die­ses Recht auch oh­ne ent­spre­chen­de Re­ge­lung im Ar­beits­ver­trag der Ar­beit­ge­be­rin zu­zu­ge­ste­hen ist. Al­ler­dings emp­fiehlt es sich gleich­wohl, ei­ne ent­spre­chen­de Be­stim­mung in den Ar­beits­ver­trag oder ein all­fäl­li­ges Per­so­nal­re­gle­ment aufzunehmen. 

Der Vertrauensarzt

An­ders als der Aus­druck «Ver­trau­ens­arzt» sug­ge­riert, han­delt es sich bei die­sem nicht um ei­nen Arzt, wel­cher über be­son­de­re Au­to­ri­tät ver­fü­gen wür­de. Es ist ein Arzt, wel­cher vom Ar­beit­ge­ber aus­ge­wählt wird. Der Ar­beit­ge­ber muss in der Re­gel auch für die Kos­ten auf­kom­men. Es stellt sich des­halb je­weils die Fra­ge, ob die Kos­ten ei­ner sol­chen Un­ter­su­chung im Ver­hält­nis zum Nut­zen, den sie bringt, ste­hen. In Fäl­len, in wel­chen die Lohn­fort­zah­lung durch ei­ne Tag­geld­ver­si­che­rung ab­ge­deckt ist, ist da­zu zu ra­ten, mit der Ver­si­che­rung Kon­takt auf­zu­neh­men. Even­tu­ell prüft die­se be­reits den Bei­zug ei­nes Ver­trau­ens­arz­tes. So kön­nen Dop­pel­spu­rig­kei­ten und da­mit un­nö­ti­ge Kos­ten ver­mie­den werden. 

Im­mer wie­der wird in der Pra­xis die Fra­ge ge­stellt, ob der Ar­beit­ge­ber ver­pflich­tet ist, dem Ar­beit­neh­mer ver­schie­de­ne Ärz­te «zur Aus­wahl» an­zu­bie­ten. Dies ist nicht der Fall, in­des ver­hin­dert ei­ne Aus­wahl, dass sich das Ver­fah­ren we­gen Ein­wen­dun­gen des Ar­beit­neh­mers ge­gen den Ver­trau­ens­arzt ver­zö­gern kann. Der Ver­trau­ens­arzt un­ter­steht der be­ruf­li­chen Schwei­ge­pflicht. Er darf nur die­je­ni­gen In­for­ma­tio­nen an den Ar­beit­ge­ber wei­ter­lei­ten, wel­che für die Be­ur­tei­lung der An­sprü­che aus dem Ar­beits­ver­hält­nis not­wen­dig sind. Da­zu ge­hö­ren et­wa Dau­er und Grad der Ar­beits­un­fä­hig­keit, An­ga­ben da­zu, ob es sich um ei­ne Krank­heit oder ei­nen Un­fall han­delt, ob ei­ne Teil­ar­beits­fä­hig­keit be­steht und wenn ja, wel­che Ar­bei­ten der Ar­beit­neh­mer aus ge­sund­heit­li­chen Grün­den noch aus­füh­ren darf und wel­che nicht. Nicht da­zu ge­hört die Mit­tei­lung der Diagnose.

Die Ar­beit­neh­me­rin kann nicht zu ei­ner ver­trau­ens­ärzt­li­chen Un­ter­su­chung ge­zwun­gen werden.

So­fern die Ar­beit­neh­me­rin den Be­such beim Ver­trau­ens­arzt ver­zö­gert oder gar ver­wei­gert, soll­te die Ar­beit­ge­be­rin die Ar­beit­neh­me­rin schrift­lich mah­nen und ei­ne Frist für die Un­ter­su­chung beim Ver­trau­ens­arzt an­set­zen. So­fern die Ar­beit­neh­me­rin den Be­such beim Ver­trau­ens­arzt trotz ei­ner ent­spre­chen­den Ab­mah­nung ver­wei­gert, ver­liert sie ih­ren An­spruch auf Lohn­fort­zah­lung. Un­ter Um­stän­den könn­te nach er­folg­ter Mah­nung und fort­dau­ern­der Wei­ge­rung so­gar ei­ne frist­lo­se Kün­di­gung in Er­wä­gung ge­zo­gen wer­den. Von die­sem Vor­ge­hen ist aber eher ab­zu­ra­ten. Dies weil frist­lo­se Kün­di­gun­gen im Fal­le ei­nes Recht­strei­tes ein ho­hes pro­zes­sua­les Ri­si­ko ber­gen. Nicht mög­lich ist es, die Ar­beit­neh­me­rin zu zwin­gen, sich der Un­ter­su­chung zu unterziehen. 

Bedeutung unterschiedlicher Beurteilungen

Der Ar­beit­neh­mer wur­de von ei­ner Ver­trau­ens­ärz­tin un­ter­sucht und die­se kommt in Be­zug auf die Ar­beits­un­fä­hig­keit zu ei­nem an­de­ren Schluss als der be­han­deln­de Arzt. Was nun? Die bei­den ärzt­li­chen Be­ur­tei­lun­gen ha­ben grund­sätz­lich den glei­chen Be­weis­wert. In ei­nem sol­chen Fall wä­re ein mög­li­ches Vor­ge­hen, dass der Ar­beit­neh­mer auf­ge­for­dert wird, den be­han­deln­den Arzt zu bit­ten, zur Be­ur­tei­lung des Ver­trau­ens­arz­tes Stel­lung zu neh­men. Al­len­falls kön­nen da­mit die Grün­de für die Dif­fe­ren­zen ge­klärt und die Streit­sa­che er­le­digt wer­den. So­fern der be­han­deln­de Arzt des Ar­beit­neh­mers aber sei­ner­seits mit den Er­klä­run­gen Zwei­fel an der Rich­tig­keit der ver­trau­ens­ärzt­li­chen Be­ur­tei­lung zu we­cken ver­mag, tut der Ar­beit­ge­ber gut dar­an, dies bei sei­nem Vor­ge­hen zu be­rück­sich­ti­gen. Al­len­falls wä­re dann die Be­ur­tei­lung des Ver­trau­ens­arz­tes durch wei­te­re Ab­klä­run­gen zu ve­ri­fi­zie­ren. So­fern der Ar­beit­ge­ber aber auf die ver­trau­ens­ärzt­li­che Be­ur­tei­lung ver­traut, steht die Ein­stel­lung der Lohn­fort­zah­lung im Raum. Be­vor der Ar­beit­ge­ber sich zu die­sem Schritt ent­schei­det, ist un­be­dingt da­zu zu ra­ten, das Ge­spräch mit dem Ar­beit­neh­mer zu su­chen. Soll­te die­ser trotz der un­ter­schied­li­chen Zeug­nis­se nicht be­reit sein, die Ar­beit wie­der auf­zu­neh­men, kann die Lohn­fort­zah­lung ein­ge­stellt werden. 

Bedeutung im Prozess

So­fern sich der Ar­beit­ge­ber da­zu ent­schei­det, sich auf die vom be­han­deln­den Arzt ab­wei­chen­de ver­trau­ens­ärzt­li­che Un­ter­su­chung ab­zu­stüt­zen und dem­entspre­chend die Lohn­fort­zah­lung ein­stellt, be­steht na­tür­lich das Ri­si­ko, dass der Ar­beit­neh­mer sei­nen Lohn­an­spruch ein­klagt. In ei­nem all­fäl­li­gen Pro­zess ist dann ent­schei­dend, wie das Ge­richt die vor­lie­gen­den ärzt­li­chen Zeug­nis­se be­ur­teilt. Die­se Be­ur­tei­lung ob­liegt der frei­en rich­ter­li­chen Be­weis­wür­di­gung. Das Ge­richt kann zu­sätz­lich Zeu­gen­aus­sa­gen der Ärz­te oder ei­ne drit­te (Gutachter-)Meinung ein­ho­len. So­fern sich we­der die Ar­beits­un­fä­hig­keit noch die Ar­beits­fä­hig­keit be­wei­sen lässt, trägt der Ar­beit­neh­mer das Ri­si­ko der Be­weis­lo­sig­keit. In die­sem Fall gilt die Ar­beits­un­fä­hig­keit als nicht be­wie­sen, wes­halb auch kei­ne Lohn­fort­zah­lung ge­schul­det ist. 

Über den Autor/die Autorin

Corina Ursprung

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