Die Aufregung hat sich etwas gelegt und der Nebel hat sich etwas gelichtet. Es ist Zeit für eine nüchterne Einordnung dieses viel diskutierten Bundesgerichtsentscheids. Dabei soll dargelegt werden, was das Bundesgericht in diesem Entscheid gesagt hat und was es eben nicht gesagt hat.
Abstract: Gemäss Bundesgericht gelangt die Sperrfristenregelung nur dann nicht zur Anwendung, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung derart unbedeutend ist, dass der Arbeitnehmer trotzdem eine neue Arbeit antreten kann. Diese Konstellation liegt vor, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf den Arbeitsplatz beschränkt ist. Am Grundsatz, dass die Sperrfristregelung bei Krankheiten zur Anwendung gelangt, ändert sich dadurch nichts.
Der Entscheid
In BGE 1C_595/2023 wurde erstmals explizit höchstrichterlich bestätigt, dass bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit die Sperrfristenregelung nicht zur Anwendung kommt. Insofern hat der Entscheid tatsächlich Relevanz. Es handelt sich dabei aber keinesfalls um einen überraschenden Entscheid. Einerseits wurde in der Lehre diese Auffassung relativ weitgehend vertreten und anderseits deutete auch die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts in diese Richtung.
Speziell am Entscheid ist, dass der Sachverhalt viel Raum für voreilige Schlussfolgerungen zulässt, weil die Arbeitsunfähigkeit (Angst- und Depressionsstörung) des Arbeitnehmers durch problematische Situationen am Arbeitsplatz ausgelöst worden ist. In den ärztlichen Berichten ist die Rede von einem hohen Risiko eines depressiven Rückfalls, wenn der Arbeitnehmer wieder mit seinem früheren Arbeitsplatz konfrontiert würde, und von einem Gesundheitszustand, der durch nichtmedizinische Faktoren, nämlich Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, beeinflusst wurde. Der Arbeitnehmer gab selbst zu, dass er aufgrund seiner Situation bei seinem Arbeitgeber an einer depressiven Verstimmung litt. Wichtig dabei ist, dass vom Bundesgericht kein Mobbing festgestellt werden konnte. Wer für die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz verantwortlich war, muss deshalb offenbleiben.
Klarstellung des Bundesgerichts und bisherige Rechtsprechung
Grund für Sperrfristen. Das Bundesgericht stellt vorab in allgemeiner Form klar (und das wiederholt), dass die Bestimmung zu den Sperrfristen nicht deshalb eingeführt wurde, weil der Zustand des Arbeitnehmers zum Zeitpunkt des Erhalts der Kündigung ihn daran hindern würde, eine andere Stelle zu suchen, sondern weil eine Anstellung bei einem neuen Arbeitgeber am Ende der ordentlichen Kündigungsfrist wegen der Ungewissheit über Dauer und Grad der Arbeitsunfähigkeit höchst unwahrscheinlich erscheint. Die eingenommene Perspektive entspricht also viel eher der einer zukünftigen Arbeitgeberin als der des arbeitssuchenden Arbeitnehmers. Oder anders gewendet: Nicht die fehlende Fähigkeit der Stellensuche, sondern die fehlende Vermittelbarkeit des Arbeitssuchenden begründen die Sperrfrist.
Ausnahmefall keine Sperrfrist. Weiter führt das Bundesgericht aus, dass die Sperrfristenregelung im Krankheitsfall nur dann nicht zur Anwendung kommt, wenn sich die Gesundheitsbeeinträchtigung als so unbedeutend erweist, dass sie die Annahme eines neuen Arbeitsplatzes nicht beeinträchtigt. Dies hat das Bundesgericht bereits in der Vergangenheit wiederholt festgehalten (z.B. in BGE 128 III 212 und in BGE 4A_587/2020). Neu wurde der explizite Hinweis angebracht, dass die Rechtsprechung bei Arbeitsunfähigkeiten, die auf den Arbeitsplatz beschränkt sind, davon ausgehe, dass sich die Gesundheitsbeeinträchtigung im oben genannten Sinn als unbedeutend erweise.
Privatrecht UND öffentliches Personalrecht. Im Entscheid 1C_595/2023 wird vom Bundesgericht auch nochmals explizit festgehalten, dass die beschriebene Rechtsprechung auch auf den öffentlichen Dienst übertragen wird, sprich, auch im Bereich des öffentlichen Personalrechts zur Anwendung gelangt.
Mediale Berichterstattung
In den Medien fand der Entscheid viel Beachtung. Die Thematik wurde insbesondere in den Überschriften teilweise aber missverständlich dargestellt. Verbreitet wurde davon gesprochen, dass nun auch bei Krankheit eine Kündigung möglich sei (z.B. 20 minuten online vom 7. Juni 2024: «Bundesgericht entscheidet: Auch bei Krankheit ist Kündigung möglich») und es wurde die verkürzte Schlussfolgerung gezogen, dass bei Mobbing am Arbeitsplatz keine Sperrfristen zur Anwendung kommen würden (z.B. Seitentitel Tagesanzeiger online vom 7. Juni 2024: «Mobbing am Arbeitsplatz: Kündigung trotz Krankheit wird möglich»). Diese Aussagen sind nicht ganz falsch, aber wie gezeigt wurde, mit sehr grosser Vorsicht zu geniessen. Deshalb nochmals in aller Deutlichkeit:
- Das Bundesgericht hat nichts am Grundsatz geändert, dass die Sperrfristenregelung bei Krankheiten zur Anwendung gelangt.
- Das Bundesgericht hat nicht gesagt, dass bei Arbeitsunfähigkeit wegen Mobbings die Sperrfristenregelung nicht zur Anwendung gelangt.
Es hat lediglich die bisherige Rechtsprechung bestätigt, dass die Sperrfristenregelung dann nicht zur Anwendung gelangt, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung derart unbedeutend ist, dass der Arbeitnehmer trotzdem eine neue Arbeit antreten kann und hat neu festgehalten, dass dies dann vorliegt, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf den Arbeitsplatz beschränkt ist.
Zum Schluss noch dies
Ebenfalls in diesem Entscheid wiederholte das Bundesgericht seine Definition von Mobbing (vgl. hierzu auch den Blogbeitrag «Mobbing im Sinne der Rechtsprechung». Dieses wird als eine Kette von feindseligen Äusserungen und/oder Handlungen, die über einen längeren Zeitraum hinweg häufig wiederholt werden und mit denen eine oder mehrere Personen versuchen, eine Person am Arbeitsplatz zu isolieren, an den Rand zu drängen oder sogar auszuschliessen, definiert. Das Opfer befinde sich oft in einer Situation, in der jede einzelne Handlung als erträglich angesehen werden kann, während die Gesamtheit der Handlungen eine Destabilisierung der Persönlichkeit darstelle, die bis zur beruflichen Eliminierung der Zielperson gehe. Mobbing liege nicht allein aufgrund eines Konflikts in den Arbeitsbeziehungen, einer Unvereinbarkeit der Charaktere oder eines schlechten Arbeitsklimas vor.
Das Bundesgericht erwähnte im Zusammenhang mit Konflikten am Arbeitsplatz die Fürsorgepflicht der Arbeitgeberin gemäss Art. 328 OR, welche besagt, dass die Arbeitgeberin Massnahmen zum Schutz der Persönlichkeit sowie der Gesundheit der Arbeitnehmenden zu ergreifen hat. Eine Arbeitgeberin, die Mobbing gegenüber den Angestellten nicht verhindert, verletzt gemäss Bundesgericht diese Schutzpflicht.